Für eine Schule, die alle behält
Kurz vor Beginn des Anmeldeverfahrens für unsere neue Rheinbacher Gesamtschule machen die Gegner einer solchen Schulform – unter anderem mit einem Flugblatt – noch einmal richtig mobil. Das ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern sogar uneingeschränkt zu begrüßen, denn eine breite und offene Debatte über die beste Bildung für jedes Kind kann eigentlich nur positiv bewertet werden. Allerdings scheint es mir dann doch angezeigt, einige blinde Flecken des genannten Flugblatts auszuleuchten, damit sich alle interessierten Eltern dann auch das ganze Bild machen können.
Die herrschende Meinung der Bildungsforscher ist gegen frühes Sortieren
Zitiert werden eine Vielzahl von empirischen Befunden, die angeblich gegen die Schulform „Gesamtschule“ sprechen. Es ist nicht weiter überraschend und entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass für jedwede Meinung irgendeine Studie auf dem Markt ist. Der Vollständigkeit halber sollte aber angemerkt werden, dass die ganz herrschende Meinung der Bildungsforscher den deutschen Sonderweg – frühe Auslese schon mit zehn Jahren – für einen der maßgeblichen Gründe dafür hält, dass unser Schulsystem im europäischen Vergleich so wenig erfolgreich ist. Dies zeigt nicht zuletzt die Pisa-Studie, so das Fazit der Bochumer Bildungsforscherin Professor Dr. Gabriele Bellenberg: „Sehr gute fachliche Leistungen bei gleichzeitig geringer sozialer Selektivität gibt es nur und ausschließlich in Ländern mit „integrierten“ Schulsystemen“, das heißt Systemen, die auf längeres gemeinsames Lernen statt frühe Auslese setzen. In allen Pisa-Studien waren die ersten fünf Plätze ausschließlich von Ländern mit einem solchen integrativen Schulsystem besetzt.
Im dreigliedrigen System gibt es nur eine Durchlässigkeit von „oben“ nach „unten“
Weitere Studien für „gemeinsames Lernen“, zum Beispiel die ELEMENT-Studie aus Berlin, könnten zitiert werden. Ich persönlich halte mich jedoch lieber an eine Zahl, die anders als die Mess-Ergebnisse von Bildungsstudien nicht interpretationsfähig ist, weil hier nur ganz schlicht gezählt werden muss. An diesem eindeutigen Befund kommen deshalb auch die Verteidiger des dreigliedrigen Systems nicht vorbei. Er lautet: In NRW kommt auf neun Bildungsabsteiger in der Sekundarstufe I nur ein einziger Aufsteiger!
Wohlgemerkt: Dieser Offenbarungseid wurde noch unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) geleistet, der wohl als der letzte aufrechte Verfechter der Dreigliedrigkeit innerhalb seiner CDU NRW in die Geschichte eingehen dürfte. Ein vorsätzliches „Verzählen“ dürfte also ausgeschlossen sein.
Jeder, der wie ich in Rheinbach sein Abitur gemacht hat, braucht keine offiziellen Zahlen, um zu wissen, dass auch bei uns jahrelang systematisch sehr viel Scheitern produziert und unzählige Schulabstiege durchlitten werden mussten. Machen wir uns nichts vor: Auch bei uns in Rheinbach funktionierte die viel beschworene Durchlässigkeit von „oben“ nach „unten“ wesentlich besser als umgekehrt. Bis der Abschied von den Klassenkameraden und dem gewohnten Lernumfeld definitiv war, hatte es schon viele Tränen, Streit und Verdruss in den betroffenen Familien gegeben. Trotz damals ja noch verbindlichen Grundschulgutachten zeigte sich oft, dass sich die Lernentwicklung mit zehn Jahren schlicht nicht vorher sagen lässt. Wenn MitschülerInnen gegen Ende der Mittelstufe nicht mehr mitkamen, weigerte sich die Realschule nicht selten, diese aufzunehmen. Sie wurden dann direkt auf die Hauptschule durchgereicht, die als einzige Schule jeden Schüler und jede Schülerin nehmen musste. Ich erinnere mich noch daran, als eine Mutter weinend aus dem Lehrerzimmer des Städtischen Gymnasiums lief, als ihr diese „Option“ eröffnet wurde.
Behalten statt Aussortieren
Hierzu ist die Gesamtschule das Gegenmodell. Statt sich der Probleme durch Aussortieren der schwierigen Schüler/innen zu entledigen, ist hier der pädagogische Anspruch, eine „Kultur des Behaltens“ zu schaffen: Da die Kinder unter einem Dach lernen, kann flexibel auf (gerade in der Pubertät völlig normale) Leistungsschwankungen reagiert werden, ohne dass gleich ein Schulwechsel nötig ist. An der Gesamtschule kann auch die Schülerin, die in Mathematik schon genial ist, aber in Deutsch noch Schwächen hat, optimal und individuell gefördert werden (eine nicht seltene Konstellation bei MigrantenInnen mit Sprachproblemen).
Wer mit Gesamtschullehrern spricht, der weiß, dass dort individuelle Förderung nicht nur ein leeres Schlagwort ist. Regelmäßig treffen sich die einzelnen Fachlehrer/innen einer Jahrgangsstufe, um zu besprechen, wie die einzelne Schülerin und der einzelne Schüler besser gefördert werden kann.
Ein Letztes sei erwähnt: Trotz direkter Konkurrenz mit allen anderen Schulformen boomt die Gesamtschule zum Beispiel in Bonn, wo kürzlich die 5. Schule dieser Art ihre Pforten eröffnete. Der Bonner Oberbürgermeister (und ehemalige Gesamtschulleiter) Jürgen Nimptsch versicherte mir, dass sich auch in großer Zahl Kinder mit Gymnasialempfehlung um die begehrten Plätze bewürben. Würden hier wirklich über so viele Jahre hinweg so viele bildungsbewusste Eltern mit offensichtlich leistungsstarken Kindern Schlange stehen, wenn die Verfasser des Flugblattes mit ihrer Horrorvision über Gesamtschulen richtig lägen? Ich kann allen noch unschlüssigen Eltern nur empfehlen, mit den vielen glücklichen Gesamtschulkindern und –eltern aus Bornheim oder Bonn zu sprechen. Und dann vielleicht eine Wahl zu treffen, die ihrem Kind alle denkbaren Wege möglichst lange offen lässt.